Die Häuser in Konstanz' mittelalterlichem Stadtteil Niederburg sind schmal und eng aneinandergebaut. Ihr stiller Trotz aus Mörtel und Stein hat Jahrhunderte überdauert. Er ruft ins Bewußtsein, wie vorübergehend die Nutznießerschaft des einzelnen Bürgers an der Burg ist - und gibt Bewohnern wie Besuchern Anlaß, ihre eigene vergängliche Existenz an der geschichtlichen Dimension eines solchen Ortes zu messen. Was bleibt, sind die nur zum Anschein trivialen Dinge des Lebens: daß der Mensch eine Behausung habe, nicht alleine sei, und daß er esse und trinke.
Dem Trinken brachten die Stadtbewohner schon immer besondere Aufmerksamkeit entgegen. 1225 wurde die Konstanzer Spitalstiftung gegründet. Wie es später auch die Stiftungen in Würzburg, Beaune, Cressier und anderswo einrichten sollten, bildeten Weinbau und Kellerei das ökonomische Rückgrat des sozialen Engagements. Die Verknüpfung von Gemeinsinn und lokaler Weinbautradition ist in hohem Ausmaß identitätsstiftend. Auch dieser Vorgang hat die Jahrhunderte überdauert. Noch heute hat die Spitalkellerei ihren Platz in der Niederburg. Eine der prägenden Erinnerungen meiner Kindheit ist jenes schlichte, mit ein paar Winkeln an der Wand befestigte Holzbord, auf dem im damaligen Verkaufsraum die Spitalweine ausgestellt wurden: Aus der Kinderperspektive ...
... nach oben blickend, sah ich das respektgebietende Spitalwappen auf allen Etiketten: pastellgrün unterlegt für die Weißweine, altrosa für die Weißherbste, karmin für die Rotweine. Zu einem kleinen Stadtrundgang, der an ehemaligen Franziskaner- und Dominikanerklöstern, an einem Jesuitentheater, einem Münster und einem Konzilgebäude vorbeiführt, gehörte untrennbar auch dieser Altar. Ich erinnere mich daran, daß mir die Verkäuferin einmal sogar den Flaschenkeller unterhalb des Ladens zeigte. Dort roch es nach feuchtem Stein, nach uraltem Gemäuer, und zu meiner höchsten Beunruhigung entdeckte ich in einigen Holzkisten Weine, die zwar ebenfalls das Spitalwappen trugen, die ich aber im Verkaufsraum noch nie zu sehen bekommen hatte. Mit einer solchen Flasche Meersburger Haltnau, Traminer Kabinett (die eigentlich einem Kontingent des Konstanzer Stadtrats hätte vorbehalten bleiben sollen) begann mein persönlicher Verdacht, daß der Weinbau der Bodenseeregion mehr zu bieten habe, als er beim ersten Blick preisgibt.
Der Bodenseeraum gehört nicht zu den großen, aber zu den historisch besonders legitimierten Weinbauregionen. 884 brachte Karl der Dicke den Pinot noir aus Burgund ans Bodenseeufer nach Bodman, an diejenige Kaiserpfalz, nach der später der ganze See benannt wurde. Früher ist diese Sorte nirgends im deutschsprachigen Raum gewachsen. Man muß wohl vermuten, daß das ganze Mittelalter hindurch und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein keine noblen Rotweine am See gewachsen sind. Der Herbst kann am See sehr neblig und feucht sein. In Zeiten ohne Pflanzenschutz war der Bodensee-Spätburgunder ...
... zum hellfarbenen, ohne langen Kontakt von Most und Beerenhäuten gekelterten Rosé prädestiniert. Übrigens sind sorgsam bereitete Weißherbste mit ihrer delikaten Frucht auch heute noch Spezialitäten der Seeregion. Bemerkenswert ist vor allem, daß die mit der Verbindung nach Burgund begonnene qualitative Tradition allen klimatischen Unbillen zum trotz niemals abgerissen ist.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese qualitative Tradition um einen zweiten Aspekt erweitert. Man getraut es sich heute kaum noch auszusprechen, doch die zweite qualitative Säule der Bodensee-Weinkultur ist der Müller-Thurgau. Der Müller-Thurgau findet am Bodensee ideale Bedingungen, und aus der Distanz fragt man sich, wo sonst die Rennaissance dieser durch Massenweine und Negativprestige geschundenen Sorte beginnen könnte - wenn nicht hier. Gute Bodensee-Müller-Thurgau zeigen eine dezente Muskatwürze ohne Aufdringlichkeit, sind leicht ohne Schwäche, feinnervig ohne Säureüberschuß. In ihrer Struktur können sie an den Zuschnitt erinnern, den das auf ideale Weise grenzwertige Klima der Mosel dem Riesling angedeihen läßt. Natürlich bleiben Müller-Thurgau-Weine Müller-Thurgau-Weine. Doch auch die Kunst des Einfachen kann zu hoher Perfektion entwickelt werden. Mittelmäßige Müller-Thurgau allerdings liefern Anschauungsmaterial dafür, warum sich der Bodenseewein meist auf eine bloß regionale Bedeutung zurückgeworfen sieht.
Es paßt ins Bild, daß der Züchter der Sorte, Hermann Müller, genannt Müller-Thurgau, am Bodensee geboren ist. In diesen Tagen, am 21. Oktober 2000, jährt sich sein Geburtstag zum 150. mal. Die vita des Gelehrten führte in ganz typischer Bodenseemanier hin und zurück über die Landesgrenze: von Tägerwilen, schweizerseits drei Kilometer vor den Toren der Stadt Konstanz gelegen, über Würzburg in Franken und...
... Geisenheim im Rheingau nach Wädenswil an den Zürichsee. Von Wädenswil aus ließ Müller-Thurgau seinen Assistenten Schellenberg die Müller-Thurgau-Reben erstmals im Freiland erproben - am Arenenberg am Untersee, wenige Kilometer von seiner Heimatgemeinde entfernt.
Die Weinberge am Schweizer Ufer von See, Alt- und Hochrhein sowie im nahen Umland bringen einige der gesuchtesten Schätze des Bodenseeweinbaus hervor. In den meisten der seenahen ostschweizer Regionen dominiert die historische Qualitätssorte des Bodenseeraums: der blaue Spätburgunder. Gut gemachte unter den einfacheren Blauburgundern sind leichte, saftige Rotweine, die die animierende Frucht des Sortentyps ohne jede Banalität ins Glas bringen. Ambitioniertere Weine können sehr dicht sein und eine kernige Stoffigkeit aufweisen, die sich in drei bis fünf Jahren zu milder Komplexität abrundet. Die Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts mit ihrem qualitativen Aufschwung hat klargemacht, daß der Bodenseeraum die Sorten der Burgunderfamilie als legitimes historisches Erbe in seine Weinberge aufgenommen hat: Auch am deutschen Seeufer, um Meersburg, Bermatingen und Hagnau, sowie am Hohentwiel und in Gailingen am Hochrhein entstehen durch den wiedererwachten Ehrgeiz der Winzer bemerkenswerte Rotweine. Nicht zu vergessen die weißen Spielarten des Pinot: Grau- und Weißburgunder aus dem Bodenseeraum variieren die badisch-elsäßische Tradition dieser trockenen, gastronomisch vielseitigen Typen mit finessenreich-schlanker, doch aromatisch intensiver Eleganz.