Die Chaussee führt in großem Bogen auf die Anhöhe. Zu beiden Seiten reflektieren Wogen von Chardonnay-Laub die Junisonne. Voran liegt inmitten der Reben ein kleiner, mit Hecken und Bäumen gesäumter Park. Am Scheitelpunkt des Parks steht ein Schloß. Der noble Landsitz nahe der Stadt Epernay heisst Château Saran, und es ist das reputierte Champagner-Haus Moët&Chandon, das ihn als Gästehaus nützt. Ich bin hier, um tags darauf von Georges Blanck, Moët&Chandons Chefönologen, eine neue Produkt-Linie präsentiert zu bekommen: "La Trilogie des Grands Crus". Man hatte mir ein Wochenende versprochen, das Arbeit und Erholung zu vereinen gestatte, und der erste Anschein liess vermuten, dass sich dieses Versprechen als reine Tiefstapelei herausstellen würde.
Wie ein bedeutendes Champagnerhaus seine Gäste unterbringt, die Antwort auf diese Frage buchstabiert sich in den Namen der edlen Steine und Metalle, in denen die Einrichtung des Badezimmers gehalten ist. Mit Bedacht und Großzügigkeit bereitgestellte Details reizen die Sinne. Auf einem Schminktischchen stehen Flacons unterschiedlicher Größe und Form, deren Inhalt in transparenten Farben leuchtet. Mit Schleifchen verschnürte Seifen duften durch ihre Verpackungsfolie hindurch. Hinter den Scheiben einer Hängevitrine ziehen Wassergläser und eine Flasche stillen Mineralwassers meinen Blick auf sich. Das Mobiliar des Wohnraums nötigt dem Gedächtnis die Namen der bedeutenden Stilepochen ab: Ein "Louis" wohl, aber welcher? Ein Schreibtisch, ein Regal mit Klassikern der französischen Literatur. Zwei Betten. Das Zimmer ist ein Eckzimmer im ersten Stock. In beide Richtungen blickt man aus Fenstern über Park und Reben.
Das Abendmenü eröffnet ein Glas stillen Chardonnays aus dem Ertrag der Schlossreben. Einzig für repräsentative Zwecke keltert Moët&Chandon einige hundert Flaschen dieses Weins. Eine liebenswerte Miniatur von durchaus markanter Mineralität. Doch dieser nicht-perlende Weißwein ist auch...
...von einer gewissen Kargheit, die verstehen lässt, warum sich die Champagne seit jeher der Produktion von Schaumweinen zugewandt hat. Erst die Kohlensäure verleiht solch filigranen Weinen das Volumen, das sie im Vergleich der grossen Weine der Welt bestehen lässt.
Als Patrick Vandermarck, Hausherr und Gastgeber im Dienste von Moët&Chandon, mich nach meinem Urteil fragt, tue ich mich schwer, die richtigen Worte zu finden. Doch er und seine Frau Micheline scheinen freundlich ausweichende Kommentare zum stillen Chardonnay des Hauses gewöhnt zu sein. Die rhetorisch abgefederte Offenheit, in der ich schließlich eine gewisse Befangenheit bekenne - denn einerseits gebietet dieser Wein Respekt, und dennoch begeistert er mich nicht -, amüsiert das Ehepaar, und diese sympathisch professionelle Gastfreundschaft wiederum amüsiert mich. Eine Gruppe belgischer Weinhändler, die ebenfalls zu Gast ist, geht währenddessen zum 1995er Jahrgangs-Rosé brut über. Es sind Chianti-Gläser, die der Service für diesen eleganten Champagner eingedeckt hat. Passenderweise: Die Frucht entfaltet sich sehr gut.
Nach Abschluss der Abendtafel zieht es mich in mein entzückendes Gäste-Domizil, und ich verabschiede mich. Die Belgischen Weinhändler haben sich derweil auf der Terrasse niedergelassen und sind lautstark ins Geschichtenerzählen verfallen. Auf einen Wink von Patrick Vandermarck erscheint ein Livrierter mit einer neuen Flasche.
Ich erwache um halb sieben. In schmalen Streifen zeichnet schüchternes Morgenlicht ein Muster...
...an die Zimmerdecke. Stille. Ich lasse mich aus dem Bett gleiten und öffne die Fensterläden. Erst an einem Fenster nach Osten, dann an einem zweiten nach Süden hin. 270 Grad Sonntagsfrieden über den Weinbergen der Côte des Blancs. Kurz nach acht sitze ich am Frühstückstisch, und schon während der ersten Tasse Kaffee trifft François Lhotte ein, der Rebbaudirektor von Moët&Chandon. Auch Patrick Vandermarck ist schon wieder auf den Beinen und frühstückt mit uns. Die Weinhändler hätten noch ausgiebig gefeiert, so berichtet er. Etwa um halb zwei Uhr habe er das Hausrecht seinem au-pair-Mädchen übertragen. Es sei wohl nicht damit zu rechnen, dass die anderen Gäste bald zum Frühstück erschienen. Er erwähnt das leicht schmunzelnd, doch ohne einen Anflug des Tadels, routiniert und mit gro§er Contenance. Ob ich übrigens gut geschlafen habe? Ich bejahe. Und bedanke mich für das schöne Zimmer, in dem ich übernachten durfte. Patrick Vandermarcks Entgegnung ist ebenso stolz wie schelmisch, spielt gekonnt mit Prestige und understatement: "In welchem Bett haben Sie geschlafen, am Fenster oder zur Tür? - Die wohl prominenteste Person, die schon in diesem Raum übernachtet hat, war Queen Mum. Aber natürlich wissen wir nicht, in welchem der beiden Betten sie genächtigt hat." Augenzwinkern.
Punkt neun Uhr brechen François Lhotte und ich zu einer Tour durch die drei Grand Cru-Weinberge auf, aus denen die Trauben für die neue "Trilogie" stammen. Nach halbstündiger Fahrt durch einen Flickenteppich von Reben erreichen wir zunächst den Ort Sillery an der Montagne de Reims. Spätfrost gefährdet die topfebene Grand Cru-Lage "Le Champs de Romont", und so entschied sich Moët&Chandon Ende der achtziger Jahre, den spät austreibenden, für seine Frosthärte bekannten Pinot Meunier hierher zu pflanzen. Der nächste Weinberg, den wir besuchen, ist "Les Sarments" im Ort Aÿ im Marnetal. Hier findet der Pinot noir nicht nur ein vergleichsweise mildes Klima, sondern auch kalkreichen Untergrund. Schon der Firmengründer Jean-Rémi Moët hatte die Güte dieser Lage erkannt: Er erwarb sie bereits im Jahr
1798. François Meynard, Weinbergs-Manager in Aÿ, lädt uns nach einer Stippvisite in die Reben zu einer Winzervesper (und einer Flasche Beaujolais!) ins Betriebsgebäude. Nach einem Happen verabschieden wir uns und kehren mit der richtigen Grundlage im Magen in die Weinberge von Château Saran zurück. Hier an der Côte des Blancs, inmitten des zu hundert Prozent mit Chardonnay bestockten dritten Grand Cru, treffen wir Georges Blanck, der in einem zum Probenraum umgebauten Rebhaus mit den Verkostungsmustern auf uns wartet.
Georges Blanck war federführend bei der Produktion dieser drei neuen Top-Champagner. Er erläutert mit erkennbarem persönlichem Eifer, warum sie sortenrein und lagenspezifisch hergestellt werden. In der Champagne ist es sonst üblich, Weine aus verschiedenen Sorten und von verschiedenen Lagen zu verschneiden. "Wir verstehen", so Blanck, "die Trilogie als eine Hommage an unsere besten Weinberge. Und wir glauben, dass es auf diesem hohem Niveau sehr viel Vergnügen bereitet, die Bausteine zu schmecken, aus denen für gewöhnlich andere große Champagner assembliert werden." In der Tat bin ich sehr neugierig. Vor allem, weil ich noch nie einen reinsortigen Pinot Meunier aus der Champagne verkostet habe. Dennoch zügle ich meine Ungeduld und beginne mit dem Chardonnay "Les Vignes de Saran": Er ist sehr sauber im Duft. Noten von Apfel und geschnittenem Gras. Luftzufuhr verändert den Wein: Nussige Komponenten treten zu Tage, buttrige, schließlich auch würzige. Die Kohlensäure ist sehr intensiv spürbar, doch sie fügt sich gut in den straffen, kernigen Bau. Ein eleganter Champagner, der im Nachhall deutlich den aromatischen Boden-Ton durchklingen lässt, der den kreidehaltigen Untergrund der Lage wiederspiegelt. Dann wende ich mich dem Pinot Meunier "Les Champs de Romont" zu. Abermals sehr sauber der Duft. Diesmals sind es beerige Noten, die dominieren: Heidelbeeren, Gelée-Früchte. Auch florale Aromen sind vorhanden: Veilchen. Am Gaumen perlt die Kohlensäure weich und samten. Ein geschliffener Champagner, der durch seine Frucht gefällt. Vielleicht tut man ihm unrecht, wenn man ihn mit dem Chardonnay vergleicht. Denn im direkten Vergleich müsste man sagen: Zur selben Größe fehlt es ihm, dem Pinot Meunier, etwas an Struktur. Dafür hat er mehr Charme. Last not least nähere ich meine Nase dem Pinot noir "Les Sarments d'Aÿ": Dieser Wein ist der verschlossenste der Trilogie: Ein Duft von gerösteten Nüssen steigt hinter leicht hefigen Noten hervor. Dann entfaltet sich schließlich nach und nach doch das Pinot noir-Parfüm. Wie soll man es beschreiben? "Beeren-Noten" schöpft die ganze Komplexität der feinen Nuancen nicht aus. Ich nehme einen Schluck. Dieser Champagner ist sehr präsent, hat Körper und Fülle. Die Säure wirkt diskret: Ein korpulenter und doch klar gegliederter Pinot noir, der sehr aromatisch endet.
Die "Trilogie" ist purer Luxus: 70 Euro und mehr kostet eine einzige Flasche. Doch es ist nicht einmal in erster Linie der Preis dieser Weine, der es zum Privileg macht, sie kosten zu können. Der in jedem Schluck konservierten Detailversessenheit, ja dem Informationsreichtum eines solchen Champagners gerecht zu werden, das ist eine Herausforderung, die ohnedies nicht materiell abzugelten ist. Ich bedanke mich bei meinen Begleitern für die Degustation - und dafür, dass sie sich an einem Sonntag Zeit für mich genommen haben. Wir erheben uns. Meine Gedanken suchen nach dem Begriff, unter dem sich das Genießen und der Respekt vor der Arbeit verbinden lassen. Dann treten wir vor das Rebhaus in den Sonnenschein und überblicken die Reben.